Erfahrungsberichte - Herr S. aus Würzburg

Fast alles Glück verspielt.

Es fällt Peter Satu (Name der Redaktion geändert) schwer daran zu denken, dass er das Glücksspiel eigentlich vergessen will. Dieses Verlangen nach den ratternden Automaten mit ihren blinkenden Lichtern, ihren schrillen Tönen. Die Sucht danach, das Glück immer wieder aufs Neue herauszufordern; so oft fast zu gewinnen, um dann am Ende doch meistens wieder zu verlieren. Eine Sucht, mit der der heute 33-Jährige in den vergangenen Jahren immer wieder gerungen hat, die er so oft überwunden glaubte. Ein ganzes Jahr hatte er zwischenzeitlich keinen Fuß mehr in eine Spielhalle gesetzt, keinen Cent mehr verzockt. Dann kam der Rückfall. Und noch einer, und noch einer.

Derzeit lebt Satu abstinent. Mal wieder. Aber dieses Mal will er es bleiben, will es endlich durchhalten. Wer Satu sieht, der nimmt ihm diesen festen Vorsatz ab. Ruhig und mit durchdringender Entschlossenheit sitzt der sportliche Mann auf seinem Stuhl, sein Gegenüber mit klarem Blick fixierend. Beide Füße stehen fest auf dem Boden, kein nervöses Tippeln. Er ist im Hier und Jetzt. Seine Hände umrahmen seine Worte ohne von ihrer Bedeutung abzulenken. Überhaupt sprudeln die Sätze geradezu aus dem Konstrukteur heraus, wenn er seine Geschichte erzählt.

Es ist eine Geschichte von Höhen und vielen Tiefen, von unzähligen Enttäuschungen und immer neuen Vertrauensbeweisen. Es ist aber auch eine Geschichte von der Liebe. Der Liebe seiner Frau, die nach elf Jahren Beziehung und sieben Jahren Ehe jetzt erstmals das ganze Ausmaß seiner Suchtvergangenheit überblickt und vor der Satu jetzt zum ersten Mal in seinem Leben keine Geheimnisse mehr hat. „Ich habe früher mein ganzes Umfeld gegeneinander ausgespielt“, erinnert er sich. „Das war wirklich sehr dreckig, und ich bin nicht stolz darauf. Es war mir aber egal, ob ich jemandem weh tue, ob ich jemanden verletze. Auch meine Frau war mir in Zeiten des Spieldrucks völlig egal.“

Erster Kontrollverlust

Wer die Ursachen für Satus Spielsucht ergründen will, der muss weit in die Vergangenheit zurückgehen. Im Alter von zehn Jahren steckte Satu, damals mit seinen Eltern noch im kommunistischen Rumänien hinter dem Eisernen Vorhang zu Hause, zum ersten Mal Geld in einen Automaten. Er verlor alles. Aber nicht nur das: „Das war wirklich mein erster Kontrollverlust. Ich habe mir sogar noch von einem Freund Geld geliehen.“ Schließlich war auch das weg.

Der Kontrollverlust. Viele Spieler kennen das Phänomen. Dieses „Einfach-Nicht-Aufhören-Können“. Dr. Ludwig Kraus, stellvertretender Leiter des Instituts für Therapieforschung in München, beschreibt es so: „Man hat den festen Vorsatz, nur eine bestimmte Zeit oder nur einen bestimmten Geldbetrag zu spielen. Und trotzdem wird so lange weitergespielt, bis man aufhören muss – entweder wegen der Höhe des Verlusts oder ganz einfach weil die Spielhalle geschlossen wird.“ Satu. hat das oft erlebt während seiner Spielerkarriere.

Mit 13 kommt er mit seinen Eltern nach Deutschland. Die Familie lässt sich im Würzburger Süden nieder. Neben der Schule jobbt der Teenager am Wochenende in einem Kaufhaus in der Innenstadt. Er stapelt Pullover und räumt Jeans in die Regale. Die 27 Mark, die er damit Woche für Woche verdient, landen aber nie auf dem Sparbuch. Er steckt sie regelmäßig in den Spielautomaten im Eiscafé an der Ecke. „Obwohl ich immer gearbeitet habe, war ich eigentlich immer knapp bei Kasse.“ Doch zu diesem Zeitpunkt sieht Satu das Spielen noch nicht als Sucht. Gemeinsam mit seinen Freunden sitzt er im Eiscafé und zockt. Wenn einer aus der Runde gewinnt, dann fahren die Jugendlichen gemeinsam in die Innenstadt, lassen es sich mit dem Gewinn gut gehen.

Wann genau der Strudel einsetzte, der ihn aus der Gruppe herauslöste und dazu führte, dass er immer öfter alleine hinter den Automaten versank, weiß Satu heute nicht mehr.

Das war wirklich ein schleichender Prozess. Es war mir einfach egal, ob jemand mit dabei saß. Mir ging’s dann auch irgendwann gar nicht mehr so sehr ums Gewinnen. Wenn ich davor gesessen habe, dann hat mir das schon gereicht.

Satus Erzählungen, seine Geschichte – Petra Müller sind sie nicht unbekannt. Tagtäglich hört sie ähnliches. Seit September 2008 leitet die Sozialpädagogin die damals neu geschaffene Beratungsstelle der Caritas für Glücksspielsüchtige in Würzburg. Je nachdem welcher Studie man Glauben schenken mag, leben allein in Bayern zwischen 16.000 und 44.000 pathologische, also zwanghafte Glücksspieler. Deutschlandweit wird ihre Zahl auf bis zu 290.000 geschätzt. Drei Viertel davon sind süchtig nach dem Spiel an Automaten.

So auch die meisten Menschen, die bei Müller Hilfe suchen. Es sind fast ausschließlich Männer, die wegen ihres Hangs zum Glücksspiel das kleine Caritas-Büro am Röntgenring aufsuchen oder in die Selbsthilfegruppe kommen. Die Sucht nach Glücksspiel ist in unserer Gesellschaft „ein sehr schambehaftetes Thema“, weiß die Beraterin. Den Betroffenen fällt es nicht leicht, über die Schwelle zu treten und zuzugeben, dass nicht sie die Automaten beherrschen, sondern selbst die Beherrschten sind.

Seine Scham vor fremder Hilfe hat Satu bereits vor einiger Zeit überwunden. Schon vor sechs Jahren hatte er mit Therapeuten zum ersten Mal über seine Sucht gesprochen. „Einer hat es bei mir sogar mal auf ein ganzes Jahr Abstinenz gebracht“, erinnert er sich. Dann kamen wieder Rückfälle. Aber im Frühjahr 2009 war alles anders, schlimmer als früher. Satu bekam gesundheitliche Probleme. Seine Sucht machte ihn krank, drohte ihn aufzufressen. Der körperliche Verfall schritt nicht voran, er rannte förmlich: Lunge röntgen, Magen-Darm-Spiegelung, Computertomografie, orthopädischer Check – all das ließ Satu machen. Immer mit demselben Ergebnis: „Die Ärzte sagten: ‚Sie sind gesund.’ Und trotzdem bin ich morgens aufgewacht und habe mich einfach krank gefühlt. Ich hatte Atemprobleme, Schwindelgefühle, Bluthochdruck und einen viel zu hohen Puls.“

Wenn er sein Spielproblem und damit auch seine Gesundheit dauerhaft in den Griff kriegen wollte, dann musste er eine stationäre Therapie machen. Da war sich Satu sicher. Um aus dem Teufelskreis aus Spielpause, Rückfall und Ehekrach endlich für immer auszubrechen, kam er zu Petra Müller in die Beratungsstelle. Die beiden füllten gemeinsam unzählige Formulare aus, Satu ließ sich von seinem Arbeitgeber freistellen. Für 16 Wochen. Vier Monate weg vom Alltag, weg vom Job, von der Familie und vor allem: weg vom Glücksspiel.

Dabei war genau dieses Glücksspiel über die Hälfte seiner Lebenszeit hinweg ein treuer Begleiter gewesen. Mit Anfang 30 kann Satu auf eine über 15-jährige Glücksspielkarriere zurückblicken. 200.000 Euro hat ihn diese Karriere wohl gekostet. Er hat es in der Klinik mal ausgerechnet. Aus Interesse. „Ich habe mich zum Glück nie finanziell ruiniert“, sagt er, und seine Erleichterung bei diesen Worten ist ihm deutlich anzumerken. Andere Spieler, die er aus der Therapie und seiner Selbsthilfegruppe kennt, hätten deutlich größere Päckchen zu tragen.

In den Hochzeiten der Sucht bestimmte diese Satus Tagesablauf, einen Gutteil seiner Handlungen. Er schätzt, dass wohl 70 bis 80 Prozent seiner Gedanken sich mit dem Spielen beschäftigten: „Ich musste zocken. Wenn ich auf der Arbeit einen Tag hatte, mit dem ich nicht zufrieden war, dann habe ich krampfhaft nach Geld gesucht. Ich hab’ versucht, mir was von Kollegen zu leihen, ich habe mein Essensgeld gespart. Einfach nur, um auf dem Heimweg zehn Minuten am Automaten spielen zu können. Das war einfach so ein Drang, so ein Druck. Ganz extrem, ganz intensiv.“

Doppelleben fliegt auf

Satus Frau wusste lange nicht um das komplette Ausmaß der Probleme ihres Mannes; wusste nicht, dass es meist Lügen waren, wenn er ihr erzählte, er sei bei Kunden oder in einer langen Besprechung. Sie wusste nicht, dass Dispo und Kreditkarte ihres Mannes am Limit waren, dass er sich bei Kollegen Geld lieh, um den nächsten Spieltag zumindest zum Teil finanzieren zu können.

Dieses Doppelleben flog schließlich auf. Satus Cousine, Mitarbeiterin in einer Spielothek, erkannte, dass sich die Besuche ihres Verwandten häuften, ihm die Kontrolle über seine Einsätze immer mehr entglitt. Sie sagte es schließlich Satus Frau. Was dann genau geschah – Satu weiß es nicht mehr. Er erinnert sich aber noch daran, dass er ein „riesiges Theater“ veranstaltet hat: „Ich wollte mit meiner Cousine nichts mehr zu tun haben. Dabei war es das einzig Richtige, was mir passieren konnte.“

Und dennoch: Auch wenn sein Spielproblem nun bekannt war, die Spielotheken zogen Satu immer wieder magisch an. Obwohl er keine eigene EC-Karte mehr besaß, sich selbst damit die Hürden hoch gelegt hatte. „Ich habe morgens meiner Frau die Karte aus dem Geldbeutel geklaut, habe sie ihr nach dem Tanken nicht mehr zurückgegeben oder hab’ gesagt, ich muss noch was in der Stadt besorgen.“ Und obwohl er wusste, dass spätestens der nächste Kontoauszug seinen Rückfall verraten würde, hob er Geld ab. Meist bis zum Limit, bis die Karte nichts mehr hergab: 600 Euro spuckten die Geldautomaten maximal aus.

„Ich hab’ mich dann gefragt: ‚Kann ich mir heute Ärger leisten? Ja? Also: Los geht’s.’ Selbst wenn mich meine Frau direkt gefragt hat: ‚Hast du Geld abgehoben?’ Ich hab mit ‚Nö’ geantwortet. Ich bin da sehenden Auges reingelaufen. Obwohl ich ja wusste, dass jeder Rückfall der letzte für die Beziehung sein konnte.“ Das Reuegefühl kam erst beim Verlassen der Spielothek, kam dann, wenn das Geld weg war. Mal wieder. „Ich habe meine Frau dann irgendwann gebeten zu gehen. Ich wollte ihr nicht mehr wehtun. Ich konnte es zwischenzeitlich nicht mehr ertragen, wie ich sie behandle.“

Satus Frau aber blieb, wollte ihrem Mann über seine Sucht hinweghelfen, versuchte, auf ihn aufzupassen. „Sie hat sich so sehr gewünscht, dass ich offen zu ihr bin.“ Aber immer offen sein, das konnte Satu nicht. Er hatte allerdings seine „klaren Momente“, wie er es selbst nennt. Dann gab er seiner Frau Tipps, wie sie erkennen könne, dass er wieder mal in der Spielothek war: „Ich habe mich selber unterwandert.“ Zigarettengeruch, ein Kundengespräch am Abend – all das nannte er als sichere Zeichen für einen Rückfall.

Doch diese Rückfall-Zeiten sollen jetzt nach der Therapie endlich der Vergangenheit angehören. „Ich weiß, dass meine Spielsucht aktiv ist. Aber ich habe keinen Spieldruck mehr. Ich komme mit mir selbst klar, ich komme mit meinen Gefühlen klar“, sagt Satu heute. Zum ersten Mal in seinem Leben. Und er vermeidet Risiken: Eine eigene EC-Karte besitzt er nicht mehr, das Geld verwaltet seine Frau. 20 Euro – mehr Geld lässt er sich pro Woche gar nicht erst auszahlen. Mit diesem Geld kauft er sich sein Mittagessen und wenn noch etwas übrig ist, dann auch einen Kaffee. Bloß nicht sparen. Das Geld darf nicht „in der Hosentasche brennen“. Bloß kein Geld anhäufen, um nicht doch in Versuchung zu kommen und die paar Euro in den nächsten Spielautomaten zu werfen. Außerdem prägen zwei neue Charakterzüge Satus Handeln: Ehrlichkeit und Offenheit – gegenüber sich selbst und seinen Mitmenschen.

Ich war mein ganzes Leben noch nie ehrlich. Aber je länger ich es bin, desto besser geht es mir damit.

Aber auch wenn er abstinent lebt, ans Spielen muss er immer wieder denken. Zu lange haben die Automaten sein Leben geprägt, es phasenweise sogar bestimmt. Zu lange, als dass er das Spielen einfach abhaken könnte. „Ich habe doch nicht einfach vergessen, dass ich suchtkrank bin.“

Was würde außer einem tiefgreifenden Wandel der eigenen Persönlichkeit noch gegen die Sucht helfen? Glücksspielern die Möglichkeit geben, sich nicht nur in Casinos, sondern auch in Spielotheken selbst zu sperren? Satu zögert lange, dann kommt seine Antwort doch überraschend: „Mit dem Sperren ist das so eine Sache. Wenn ich die Sucht nicht von innen bekämpfe, dann werde ich es nie packen. Dann kanalisiert sich alles in einer anderen Sucht.“ Stattdessen würde er andere Wege gehen: weniger Spielhallen, eingeschränkte Werbung, bessere Aufklärung.

„Ein sehr schwieriges Thema“

Weniger Spielhallen – das würde Anbieter wie Löwen Play treffen. Das Unternehmen aus Bingen am Rhein ist mit über 270 Spielhallen in ganz Deutschland Marktführer im Bereich der „Dienstleistungen für kommunikative und erlebnisorientierte Freizeit“, wie es in der Eigenwerbung heißt. Auch hier macht man sich über Suchtprobleme Gedanken. Allerdings wohl lieber hinter verschlossenen Türen. Mit Journalisten spricht man nicht allzu gerne offen. Erst nach mehreren Telefonaten und E-Mails gibt es eine schriftliche Stellungnahme. Darin heißt es: „Die Themen ‚Glücksspielsucht‘ und mögliche ‚Maßnahmen zum erweiterten Spielerschutz‘ werden momentan auf Branchenebene wie auch bei uns im Unternehmen recht breit diskutiert. Es ist ein sehr schwieriges Thema.“ Derzeit suche man nach „sinnvollen Lösungen“ wie einem „einheitlich anwendbaren Sensibilisierungs- und Präventionskonzept“.

Wie diese Konzepte im Detail aussehen können, wird nicht erklärt. Das Unternehmen verweist aber auf „erste Ansätze in der Branche, Personal gezielt zu schulen und über das Thema ‚Pathologisches Spiel‘ zu informieren.“ Betroffene Spieler müssten „adäquat angesprochen und ‚abgeholt‘“ werden, „dass zunächst mal die Bereitschaft, überhaupt Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen, geschaffen wird.“ Außerdem verweist man auf das allgemeine Informationsmaterial, das in den Spielstätten ausliegt. Es besteht aus zwei DIN A4 Seiten mit „10 Grundregeln für das Spielen an Geld-Gewinn-Spielgeräten“, einem Selbst-Test mit acht Fragen und der Nummer der Telefon-Hotline der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Zurück zu Peter Satu. „Ich schäme mich nicht für meine Krankheit. Ich schäme mich aber dafür, wie ich die Leute um mich herum behandelt habe“, sagt er. Er weiß um seine Schwächen – und er ist fest entschlossen, sie dieses Mal endgültig zu überwinden. Alleine schon seiner Frau wegen. Seine Stimme zittert fast ein wenig, wenn er sagt: „Meine Frau hat unter meiner Spielsucht wahrscheinlich mehr gelitten als ich. Ohne sie wäre ich sehr, sehr tief gefallen.“

Auch ihr zuliebe versteht er sich deshalb als Öffentlichkeitsarbeiter. Satu will ein Bewusstsein für das Thema „Glücksspielsucht“ schaffen, es bekannt machen. Offen über seine Sucht zu sprechen ist für ihn einerseits ein Stück Therapie, andererseits aber auch ein Schritt Richtung Öffentlichkeit: „Mir liegt am Herzen, dass ein Glücksspieler in unserer Gesellschaft endlich einen ähnlichen Status erlangt wie ein Alkoholiker.“ Im ersten Moment ein kruder Vergleich, ein abstruser Gedanke. Aber Satu fährt fort: „Glücksspielsucht muss endlich als Krankheit akzeptiert werden.“ Er will seinen Teil dazu beitragen.

 

Autor: Andras Wallbillich (POW)

Volontär
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