Erfahrungsberichte - Frau S. aus München

Die Scheinwelt vor dem Automaten.

Die freundliche Frau wohnt in einer süddeutschen Großstadt. Wer ihr begegnet, findet sie schnell sympathisch. Keiner käme auf die Idee, dass sie jeden Tag aufs Neue einen harten Kampf zu bestehen hat: den gegen sich selbst. Die 41-Jährige ist glücksspielsüchtig und seit einigen Monaten „trocken“. Für diesen Bericht verwendet sie ihren Spitznamen „Silly“, damit sie nicht erkannt wird. Erst vor ein paar Wochen hat sie ihrer Familie gesagt, dass sie süchtig ist. Nun wissen ihr Mann, die beiden Kinder und ihre Eltern Bescheid. „Ich wollte mich von diesem Lügenkonstrukt befreien, das ich mir zurechtgezimmert hatte. Sie können sich nicht vorstellen, was das für ein Druck ist, wenn man 24 Stunden am Tag lügen muss, damit einem niemand auf die Schliche kommt.“ Die gelernte Bürokauffrau nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, bevor sie schildert, wie sie glücksspielsüchtig wurde. Sie spricht mit der Offenheit einer Frau, die sich mit ihrer Sucht intensiv auseinandergesetzt hat.

„Als ich das erste Mal am Spielautomaten stand, war ich 18 Jahre alt. Ich musste eine Wartezeit überbrücken. Mir war langweilig. Also habe ich die Automaten ausprobiert und es gefiel mir.“

Über sechs Jahre lang spielte Silly nur fünf oder sechs Mal pro Jahr. Sie setzte kleine Beträge ein, nur das Geld, das am Monatsende definitiv übrig war. Sie verlor wenig, gewann aber auch immer wieder einmal etwas. Nach dieser „Einstiegsphase“ heiratete sie, wurde Mutter und blieb zu Hause. Doch mit dem Hausfrauendasein war sie nicht zufrieden. Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass das schon alles im Leben gewesen sein sollte. Also stand sie dann immer öfter am Spielautomaten um „dieser alltäglichen Tristheit zu entgehen“. Für Silly war das „der Ein-Quadratmeter-Raum, in dem ich meine Ruhe hatte, sowohl relaxen als auch träumen konnte, wo alles von mir abfiel.“

Durch die Spielgewinne, die es auch gab, konnte sie sich mit ein paar Annehmlichkeiten belohnen und auch der Familie hin und wieder eine Freude machen.

„Wenn ich den Jackpot hatte, dann war das ein Kick, den man sich kaum vorstellen konnte. Mir wurde am ganzen Körper richtig heiß, alles hat vor Energie vibriert und ich fühlte mich endlich wieder lebendig.“

Das, was der Spielautomat bei ihr ausgelöst hat, vergleicht Silly mit dem Gefühl der Verliebtheit. Schon die Nähe zu ihrem Lieblingsautomaten wirkte erregend. In dieser „Beziehung“ gab es auch so etwas wie Eifersucht: „Manchmal war ich stundenlang an meinem Automaten und hatte verloren. Wenn dann ein neuer Spieler an meinem Automaten etwas gewann, war ich richtig wütend. Aber hauptsächlich auf mich selbst, da ich mich als unfähig und letztlich als Versager fühlte.“ Doch anstatt aufzugeben, führte das bei ihr nur zu Überlegungen nach neuen Spielstrategien.

Sillys Interessen engten sich immer mehr ein. Das Spielen wurde zu ihrem Lebensmittelpunkt.

„Ich war keine liebende Ehefrau mehr und keine liebende Mutter. Auch Freunde hatte ich keine mehr, denn meine ganzen Bedürfnisse richteten sich nur noch auf die Spielautomaten“

,gesteht sie. Bemerkt hat ihre Abhängigkeit niemand, denn sie „funktionierte“ all die Jahre über mit einer vorgetäuschten Perfektion.  Sie war mittags zu Hause und kochte für die Kinder. Die Wohnung war familien- und haustiertauglich aufgeräumt. Mahnungen wurden abgefangen, bevor ihr Mann sie finden konnte.

Rund 150.000 Euro hat sie in den letzten 15 Jahren an den Automaten verspielt und ihre aktuellen Schulden belaufen sich auf knapp 30.000 Euro. Die Abfindung ihrer früheren Firma wurde zu Spielgeld, ebenso die gekündigte Lebensversicherung. Der Dispokredit war bis zum Limit ausgeschöpft, auch die bereits abgebuchte Miete holte sie sich zurück, um weiterspielen zu können. Geld besorgte sie zudem bei Verwandten mit dem  Hinweis auf  Nachzahlungen von Strom- oder Hausnebenkosten.

„Ich war Meisterin im Lügen, Betrügen und Manipulieren. Mein zuckersüßer Charme hat immer funktioniert“

, analysiert sich Silly selbstkritisch. Für die aufgelaufenen Schulden will sie die Verantwortung übernehmen und sie nach und nach zurückzahlen.

Dass sie süchtig ist, konnte die 41-Jährige lange nicht zugeben. Irgendwann kam der körperliche und seelische Zusammenbruch mit Brechattacken vor jedem Spielhallenbesuch. In dieser Zeit dachte sie sogar darüber nach, sich das Leben zu nehmen.

„Da habe ich endlich erkannt, dass ich Hilfe brauche“

, beschreibt sie diese verzweiflungsvolle Phase nüchtern. Sie ging zu ihrem Arzt, der sie zum Psychiater verwies. Der verordnete Medikamente gegen Angstzustände und riet ihr, auch zur Glücksspielberatungsstelle ihrer Stadt zu gehen. Dort bekam sie unter anderem den Tipp, Kontakt zur Selbsthilfegruppe der Anonymen Spieler aufzunehmen. Seither nimmt sie an den wöchentlich stattfindenden Treffen teil.

Der Austausch mit anderen Spielsüchtigen ist für sie wichtig. Einerseits, weil sich die Betroffenen gegenseitig darin bestärken, von den Spielautomaten wegzubleiben, andererseits, weil Silly dort auch viel über sich selbst und die Sucht erfährt. „Wenn die anderen von sich erzählen, habe ich auch so manches Aha-Erlebnis. Ihre Erfahrungen sind eine Art Spiegel für mich, denn erst in der Gruppe habe ich erkannt, dass ich mit meiner Glücksspielsucht nicht die einzige bin“, schmunzelt sie und zieht wieder an ihrer Zigarette. Im nächsten Monat kann sie eine Therapie beginnen, um das Leben mit der immer noch vorhandenen Sucht besser verarbeiten zu können.

Der Gedanke, nie wieder spielen zu dürfen, überfordert sie derzeit. Deshalb orientiert sich Silly an den Regeln der Anonymen Spieler. Danach zählt nur das jeweilige Heute, die aktuellen 24 Stunden, an denen sie nicht spielt. Und das immer wieder aufs Neue. Nach einigen Monaten ohne Spielautomaten fühlt sie einen starken Entzug.

„Immer dann, wenn die Spiellust kommt, gönne ich mir etwas Schönes: ich höre Musik, mache mit dem Hund einen Spaziergang oder atme ruhig ein und aus und stelle mir dabei einen Sonnenuntergang am Meer vor.“

Sie versucht, durch die einfachen Dinge des Lebens wieder erdverbunden zu werden und durch kleine Schritte wieder so etwas wie Zufriedenheit zu erlangen. Weil sie nicht mehr spielt, hat Silly deutlich mehr Zeit und Nüchternheit  zum Nachdenken über ihr Leben und den damit verbundenen Druck. Demnächst werden bei ihr wohl einige Veränderungen anstehen. Und sie wird jeden Tag  neu gegen die Glücksspielsucht ankämpfen.

Autorin: Frau S. aus München